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Im Rahmen der Tradition (1812-1880)

In den Jahrzehnten bis etwa 1840 wuchs die Zahl der jüdischen Familien in Münster nur langsam an. Im Jahr 1843 zählte man 182 Personen israelitischen Glaubens in der Stadt. Leider sind aus diesem Zeitraum keine vollständigen Verzeichnisse der Verstorbenen erhalten. Zudem schlug im Zweiten Weltkrieg eine Bombe in das Gräberfeld rechts des heutigen Hauptweges ein und zerstörte zahlreiche der ältesten Steine; andere, aus weichem Baumberger Sandstein, hielten wohl auch der Witterung nicht lange stand.

Der einzige aus diesen frühen Jahrzehnten noch identifizierbare Grabstein ist der von Sophie Haindorf geb. Marks. Sie verstarb am 6. September 1816 nach der Geburt ihres ersten Kindes, einer Tochter, die ebenfalls den Namen Sophie erhielt und bei ihrem Vater, dem Arzt Dr. Alexander Haindorf, in der Salzstraße in Münster aufwuchs. Als er 1862 starb, wurde offenbar der Grabstein seiner Frau Sophie am Kopfende der Gruft neu aufgestellt. (R25)

1865 bat der Vorstand der Jüdischen Gemeinde den Magistrat der Stadt, ihm den Platz des Friedhofs  ‚auf ewige Zeiten‘ abzutreten und das angrenzende Grundstück käuflich erwerben zu dürfen. In dieser Bitte spiegelt sich, dass aufgrund einer neuen Gesetzeslage die Friedhöfe nicht mehr im kommunalen Eigentum verbleiben mussten, sondern von den Religionsgemeinschaften erworben werden konnten. In dieser Bitte spiegelt sich aber auch, dass die jüdische Gemeinde inzwischen deutlich, auf etwa 350 Personen, angewachsen war und man absah, dass der Begräbnisplatz bald nicht mehr ausreichen würde. Nach jüdischem Brauch soll den Toten ja eine ewige Ruhe gewährt werden, was bedeutet, dass die Gräber nicht nach einer gewissen Frist wiederbelegt werden können. Aus den Jahren 1860–1870 und 1871–1880 sind jeweils etwa ein Dutzend Grabsteine erhalten, was in etwa auch den Verzeichnissen der Verstorbenen entspricht; für das Jahrzehnt 1881–1890 hat sich die Zahl verdreifacht.

1887 konnte die Synagogengemeinde ein Grundstück nach Westen hin, links des heutigen Hauptweges, erwerben.

Für die Zeit davor, als Münster zum Königreich Preußen gehörte, und für das erste Jahrzehnt des Deutschen Kaiserreiches ist das Gräberfeld rechts des Weges aufschlussreich.

Dort finden sich zum Beispiel noch keine Doppelgräber: auch bei einem Ehepaar hat jeder Ehepartner sein oder ihr eigenes Grab mit einem eigenen Grabstein. Ein Beispiel sind die beiden gleich gestalteten Grabsteine von Abraham (R106) und Thirza (R105) Steinberg. Auch dies ist eine Weise, die Ruhe der Toten zu respektieren. Die Form der Steine ist durchweg traditionell, ein aufrecht stehender Block, manchmal mit einem Dachaufsatz abgeschlossen, manchmal mit einem Rundbogenabschluss.

Der Grabstein des jung verstorbenen Heinemann Steinberg (R116) weist unter dem Rundbogen zwei abgeknickte Rosen auf, Symbol eines zu früh zu Ende gegangenen Lebens. Auch die Art der Inschriften ist charakteristisch für diese Zeit: die älteren Steine tragen hebräische Inschriften auf der Südseite, der nach Jerusalem weisenden Seite, von woher fromme Juden und Jüdinnen den Beginn der Auferstehung der Toten erwarten. Auf der Nordseite findet sich der deutschsprachige Grabspruch, der in Aufbau und Sprachgebrauch den christlichen Inschriften ähnlich ist. In den hebräischen Inschriften dagegen spiegeln sich jüdischer Glaube und jüdischer Brauch. Die Verstorbenen tragen hier oft ihren traditionell jüdischen Namen, den sie von ihren Eltern in der Synagoge erhalten haben, die Jungen bei der Beschneidung, die Mädchen beim ersten Synagogenbesuch der Eltern. Auf der deutschsprachigen Seite dagegen findet sich der bürgerliche Vorname, der bei den preußischen Behörden angegeben wurde. Sophie Haindorf ist ein schönes Beispiel: ihr Vorname, der in der hebräischsprachigen Inschrift genannt wird, lautet Feigele=Vögelchen, eine Übersetzung des hebräischen Namens „Zippora“, der Ehefrau des biblischen Mose.

Literatur:

Gisela Möllenhoff / Rita Schlautmann-Overmeyer, Art. „Münster“, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe, Bd. 2, Münster 2008, S. 487–513, hier S. 509: die Autorinnen bieten einen knappen chronologischen Abriss des Erwerbs und der mehrfachen Erweiterungen des Friedhofsgeländes an der Einsteinstraße und eine generelle Einbettung der Grabsteine in die jüdische Bestattungskultur des 19. und beginnenden 20. Jh.s.

Marie-Theres Wacker, Ein neuer Mordechai und ein quellender Brunnen. Genderspezifische Beobachtungen zum Jüdischen Friedhof an der Einsteinstraße in Münster/Westfalen (1816–2016), in: Angela Berlis u.a. (Hg.), Die Geschlechter des Todes. Theologische Perspektiven auf Tod und Gender, Göttingen 2022, S. 363–395 (+ 6 Abb.).

(zusammengestellt von Marie-Theres Wacker)