Neuanfang mit einem Notfall (1811)
Anfang Januar 1811 traten Abraham Lefman, Salomon Lefman und Nathan Metz als Vertreter der Münsteraner Judenschaft an den geschäftsführenden Bürgermeister (maire ad interim) Johann Heinrich Schweling heran und gaben zu Protokoll,
„daß bis dato für ihre Todte ihnen noch keine Begräbnisstätte zugewiesen sey, sie hätten gegenwärtig den Fall, daß sie einen Todten hätten, ihre Gesetze erlaubten nicht, ihre Todte über einen halben Tag stehen zu lassen, indeß müßten und wollten sie sich gern den bestehenden Gesetzen fügen, und gebethen haben, ihnen sobald als möglich einen Ort zum Begräbnis ihrer Religionsverwandten zuweisen zu lassen“ (Stadtarchiv Münster, Stadtregistratur Fach 36,6, fol. 1: Protokoll vom 7. Januar 1811).
Ein Todesfall in der Gemeinde ist hier Auslöser für den Antrag auf Zuweisung eines Begräbnisplatzes; gleichzeitig wird der Handlungsdruck auf jüdischer Seite deutlich, der in der religionsgesetzlichen Vorgabe besteht, Verstorbene möglichst noch am gleichen Tag zu begraben.
Schweling, so dokumentieren es Notizen auf der Rückseite des eingegangenen Schreibens, antwortete umgehend, dass eine sofortige Zuweisung eines Grundstückes nicht möglich sei, da eine „höhere Ratification“ eingeholt werden müsse und weitere Formalitäten zu beachten seien. Für diesmal müsse er deshalb darum bitten, das verstorbene Kind auf einem Nachbarfriedhof beisetzen zu lassen. Im Übrigen treffe aber auch die Gemeinde selbst Schuld an der jetzigen misslichen Situation, da sie ein entsprechendes Gesuch schon früher hätte einreichen können.
Gleichzeitig ließ Schweling jedoch auch prüfen, ob außerhalb der Stadttore, wo Anfang des 19. Jahrhunderts auch neue katholische Friedhöfe angelegt worden waren, ein geeignetes Grundstück für einen jüdischen Friedhof zu finden sei, und trat wenige Tage später mit bereits sehr konkreten Vorschlägen an den in Münster residierenden Präfekten des Département Ems, Karl Josef von Mylius, heran:
„Schon vor nun geraumer Zeit trugen die hier wohnenden jüdischen Kaufleute mir mündlich ihren Wunsch vor, eine Begräbnisstelle zu haben, wo sie ihre Todten gemäß ihren Bräuchen begraben könnten. Ich bemerkte ihnen darauf, dass sie mir ihren Wunsch schriftlich vorstellen möchten um darüber berichten zu können, allein dies unterblieb, bis vor ein paar Tagen ein Kind aus ihrer Gemeinde dahier verstarb. Nun kamen sie ganz in Verlegenheit bey mir und gaben mir die schriftliche Vorstellung um Zuweisung eines Begräbnisplatzes ein. Ich veranstaltete […] , daß ein Platz dazu ausgemittelt würde, und fand mit ihnen einen Platz aus dem Neuen Thor dazu schicklich, welcher einer von den neu angelegten Gärten vor demselben Thor […]
[….] allein es ging nicht an, selben Platz ihnen sofort eigenthümlich zu überweisen, weil die Veräußerung eines Communal-Grundstückes mehreren Formalitäten unterworfen ist, und so wurde die (sic!) Begräbnis des Kindes für diesmal auf dem jüdischen Friedhof zu Telgte besorgt.
Die Juden wünschen indeß sehnlichst die baldige Zuweisung eines Begräbnisplatzes für ihre Gemeinde, ich habe nachher daher auch andere Orte des Endes besehen, und finde zum Beispiel auch einen Platz vor Ludgeri Thor gegen der Bleiche über dazu geeignet.
Bey diesen Umständen muß ich Sie Herr Präfekt dringendst bitten, mich [….] zu bescheiden, wie ich bey Ueberlaßung eines derartigen Begräbnisplatzes aus den Communal-Grundstücken zu verfahren habe.“ (Staatsarchiv Münster, Regierung Münster, Nr. 17163, 1810 Acta wegen Anlegung der Begräbnisplätze für die jüdischen Gemeinden, Schreiben vom 10. Januar 1811)
Schweling macht die aktuelle Notlage der jüdischen Gemeinde deutlich, wenn ihm auch wichtig ist festzuhalten, dass nicht er sie verschuldet hat. Zugleich aber stellt er sich auf die Seite der Bittsteller, indem er ihren Wunsch nachdrücklich unterstreicht. Zudem hält er seine bereits erfolgten Bemühungen, gemeinsam mit den Gemeindevertretern eine geeignete Lösung zu finden, fest und fordert eine Stellungnahme des Präfekten dringlich ein.
Der Präfekt reagierte in einem Schreiben vom 18. Januar 1811 an den maire ad interim auf das Anliegen wie folgt:
„Aus ihrem Briefe vom 10ten d. M. habe ich ersehen, daß die jüdische Gemeinde hieselbst um die Anweisung eines Platzes ersucht, wo sie nach den Gebräuchen ihrer Religion ihre Todten begraben kann, und daß sie hierzu die Überlassung eines Communal-Grundstücks in Vorschlag bringen. Ich bemerke Ihnen darauf, daß es der Gemeinde zwar überlassen bleibt, der jüdischen Gemeinde einen beliebigen Platz zu ihren Begräbnissen anzuweisen ohne die in dem Art 45 & 46 des Großherzoglichen Decrets vom 13ten October 1807 vorgeschriebenen Formalitäten zu beobachten, aber die Friedhöfe selbst ein communales Eigentum bleiben. Mir scheint indessen, daß die Anlegung eines besonderen Kirchhofs für die hiesige kleine jüdische Gemeinde unnöthig sey, und die Anweisung eines besonderen etwa einzufriedigenden Platzes auf einem der vor den Thoren angelegten neuen Kirchhöfe hinreichend seyn dürfte“ (Stadtarchiv Münster, Stadtregistratur Fach 36,6, fol. 4)
Von Mylius weist auf die Neuordnung der Verwaltung im Großherzogtum Berg vom 13. Oktober 1807 hin und sieht auf dieser Basis prinzipiell die Möglichkeit der Zuweisung eines der städtischen Gemeinde gehörenden Grundstücks zur Nutzung, nicht aber dessen Verkauf an die jüdische Gemeinde. Er gibt jedoch deutlich zu verstehen, dass aus seiner Sicht kein eigener jüdischer Friedhof geschaffen werden muss, sondern der jüdischen Gemeinde auf einem der christlichen Friedhöfe eine abgegrenzte Parzelle zur Verfügung gestellt werden sollte.
Schweling aber bleibt bei seiner Vorstellung und bestätigt der jüdischen Gemeinde:
„Auf Ihre Eingabe vom 7ten vorigen Monats um Zuweisung eines Begräbnisplatzes für ihre Gemeinde erwiedere ich ihnen auf dem Grund einer deshalb eingeholten Resolution des Herrn Präfecten, daß ihnen zu diesem Endzwecke ein Communal-Platz zum Gebrauche zugewiesen werden kann. Ich schlage Ihnen daher dazu einen Platz aus dem neuen Thore vor, welchen ich nebst einigen Deputirten von Ihnen bereits vor einiger Zeit angemessen gefunden habe, er liegt daselbst am Coesfelder Wege, ist von den dort angelegten Gartenplätzen der letzte sub no 10 der darüber aufgenommenen Karte und liegt bey des Herrn Gografen Wemhof gehörigen Grundstücken“ (Stadtarchiv Münster, Stadtregistratur Fach 36,6, fol. 5, datiert auf den 5. Februar 1811).
Das Grundstück, so Schweling in seinem Schreiben weiter, sei allerdings derzeit noch für einige Jahre an einen gewissen Lutterbeck verpachtet. Wenn es der jüdischen Gemeinde gelänge, mit genanntem Lutterbeck über eine vorzeitige Abtretung des Grundstückes einig zu werden, könne die Sache weiter verfolgt werden.
Die jüdischen Gemeindevertreter verhandelten mit Lutterbeck und erreichten, dass dieser das Grundstück vor Ablauf der Mietfrist abtrat. Daraufhin richtete Schweling an den Präfekten die Bitte um „Authorisation“,
„genannten Platz der jüdischen Gemeinde unentgeldlich zu ihrem Gebrauch und Anlage ihres Begräbnisplatzes, mit Vorbehalt des Eigenthums von seiten der Commune überweisen zu mögen.“ (Staatsarchiv Münster, Regierung Münster, Nr. 17163, 1810 Acta wegen Anlegung der Begräbnisplätze für die jüdischen Gemeinden, Schreiben vom 16. April 1811)
Von Mylius aber bestand gegenüber Schweling darauf, ihm
„die Anstände anzuzeigen, die Sie bey Erledigung meiner früheren desfallsigen Verfügung finden“ (Stadtarchiv Münster, Stadtregistratur Fach 36,6, fol. 8; Schreiben vom 11. Mai 1811)
Er wollte demnach wissen, welche Hinderungsgründe den Bürgermeister bewegt hatten, eine doch klare Empfehlung von höherer Stelle nicht umzusetzen. Schweling nannte Gründe aus katholischer wie auch aus jüdischer Sicht für sein Vorgehen:
„Nicht allein daß es anstößig sein würde, wenn Juden auf einem geweiheten Kirchhof der Christen begraben würden, sondern auch, weil es in kanonischer Hinsicht unzulässig sein soll, und die Juden es nach ihrem ritual nicht thuen dorfen, fand ich Anstand, einen Platz auf dem Kirchhofe der Christen zu dem jüdischen Begräbnis auszumitteln …“ (Stadtarchiv Münster, Stadtregistratur Fach 36,6, fol. 8; Schreiben vom 11. Mai 1811, Rückseite)
Ein Antwortschreiben des Präfekten findet sich in den Akten nicht; vielleicht hat es auch ein solches gar nicht gegeben, denn im Juni 1811 wurde von Mylius abgelöst durch den neuen Präfekten Jean Charles Annet Victorien de Lasteyrie du Saillant; Münster gehörte nach einer erneuten Verwaltungs-Reorganisation im französischen Kaiserreich inzwischen zum Département Lippe. Der erste Vorstoß der jüdischen Gemeinde, einen eigenen Begräbnisplatz zu erhalten, war im Sande verlaufen …
Ungedruckte Quellen
Eine ausführliche bzw. umfassende Gesamtdarstellung zur Geschichte des Friedhofs an der Einsteinstraße liegt bisher noch nicht vor.
Die Darstellung beruht auf folgenden (ungedruckten) Quellen:
Stadtarchiv Münster, Stadtregistratur, Fach 36,1–8
Landesarchiv Münster, Regierung Münster, Nr. 17163
Katasteramt der Stadt Münster, Urkarte 1828/29 Ausschnitt Gemarkung Überwasser Flur 21
(zusammengestellt von Marie-Theres Wacker)